Part 02
Der Doktor bebte an allen Gliedern. »Ja,« erwiderte er, »ich habe gehört, wie die Jungen Extrablätter im Square zum Verkauf ausriefen.«
»Ich möchte nur eins wissen,« sagte der Advokat. »Carew war mein Klient und mein Freund, gerade wie du es bist. Was soll ich nun tun? Du bist doch nicht etwa wahnsinnig genug, den Mörder zu verbergen?«
»Utterson,« rief der Doktor, »ich schwör es dir beim allmächtigen Gott, daß ich ihn nie in meinem Leben wiedersehen will. Ich gebe dir mein Ehrenwort, ich habe nichts mehr mit ihm zu tun – es ist alles, alles vorbei zwischen uns. Außerdem bedarf er meiner Hilfe nicht; er ist außer Gefahr, außer aller Gefahr. Glaube mir, Utterson, man wird ihn nie fangen – man wird nie wieder etwas von ihm hören.«
Der Advokat blickte finster vor sich hin. Das Beängstigte, Nervöse in Jekylls Sprache, in seinem ganzen Benehmen mißfiel ihm: »Ich hoffe, du bist deiner Sache gewiß,« sagte er endlich, »ich hoffe es um deinetwillen. Sollte die Geschichte vor Gericht kommen, so würdest du unbedingt als Zeuge erscheinen müssen.«
»Ich bin meiner Sache ganz sicher,« sagte Jekyll. »Ich habe Gründe, die ich dir nicht mitteilen kann. Aber um eins wollte ich dich noch bitten. Ich habe ... ich empfing heute morgen einen Brief von Hyde. Ich wollte dich fragen, ob ich denselben der Polizei übergeben soll. Hier ist er, urteile selbst, ich überlasse dir ganz und gar, was du damit tun willst. Du weißt, ich habe unbegrenztes Vertrauen zu dir.«
»Fürchtest du etwa, daß dieser Brief zu Hydes Verhaftung führen könnte?« fragte der Advokat.
»Nein,« sagte Jekyll, »außerdem ist es mir ganz gleichgültig, was aus Hyde wird. Ich bin fertig mit ihm für alle Zeiten. – Ich dachte nur an mich selbst. Es wäre eine böse Geschichte, wenn mein Name irgendwie mit diesem Verbrechen in Verbindung käme!«
Utterson fühlte sich durch seines Freundes Egoismus sichtlich erleichtert. »Laß mich den Brief sehen,« sagte er.
Der Brief war mit einer ungewöhnlichen, aufrechtstehenden Handschrift geschrieben und »Edward Hyde« unterzeichnet. Er bekundete in wenigen Worten, daß des Schreibers edler Freund und Wohltäter, Doktor Jekyll, dessen jahrelange Nachsicht und Großmut er (der Schreiber) so schändlich mißbraucht hätte, sich in keiner Weise beunruhigen solle; er wisse ganz sicher, daß er dem Arme des Gesetzes entgehen werde, und niemand solle je wieder etwas von ihm hören oder sehen. – Der Advokat fühlte eine gewisse Beruhigung über diesen Brief, der ein günstiges Licht aus das merkwürdige Verhältnis zwischen Jekyll und Hyde zu werfen schien. Er machte sich sogar gelinde Vorwürfe, daß er seinen alten Freund überhaupt verdächtigt habe.
»Hast du das Kuvert?« fragte er.
»Ich habe es verbrannt,« erwiderte Jekyll, »mir war der Kopf ganz verdreht, ich wußte kaum, was ich tat. Er hatte keinen Poststempel; der Brief wurde durch einen Boten übergeben.«
»Soll ich den Brief behalten?« fragte Utterson.
»Tue damit, was du willst, ich habe alles Zutrauen zu mir selbst verloren,« war die Antwort.
Der Advokat steckte den Brief in die Tasche. »Und nun noch eins, Jekyll. Nicht wahr, es war Hyde, der die Verfügungen deines Testaments bestimmt hat?«
Der Doktor wurde totenbleich; er kniff die Lippen krampfhaft zusammen und machte eine bejahende Bewegung.
»Ich dachte es mir wohl,« sagte der Advokat; »er hatte die Absicht, dich zu ermorden. – Du kannst von Glück sagen, daß du noch am Leben bist.«
»Ich habe eine schreckliche Erfahrung gemacht. Ach Gott, Utterson, eine schreckliche Erfahrung!« sagte Jekyll und bedeckte sich das Gesicht mit beiden Händen.
Als Utterson im Begriff war, das Haus zu verlassen, traf er den alten Diener in der Vorhalle. »Poole,« sagte er, »es hat heute morgen jemand hier einen Brief abgegeben. Wie sah der Mann aus?«
Poole war ganz sicher, daß kein Brief durch einen Boten angekommen war. »Auch mit der Post ist nichts gekommen,« fuhr er fort, »nur einige Zeitungen und Zirkulare.«
Der alte, böse Verdacht tauchte wieder in Uttersons Seele auf. Der Brief war gewiß an der Hintertür abgegeben – vielleicht in des Doktors eigener Arbeitsstube geschrieben? Sollte dies der Fall sein, so müßte man ihn in einem ganz andern Lichte betrachten – müßte außerordentlich vorsichtig damit sein.
Auf den Straßen wurden die Extrablätter noch zum Verkauf ausgerufen: »Schrecklicher Mord eines Baronet!«
»Das ist also die Grabpredigt über einen alten Freund und Klienten,« sagte sich Utterson mit Bitterkeit; »und ich fürchte, daß auch noch der gute Name eines anderen in diesem Strudel zugrunde geht.« –
Der Brief, den er bei sich trug, fing an, ihn zu beunruhigen; er begann sich klar zu machen, daß er damit eine große Verantwortlichkeit übernommen habe; er, der alte, erfahrene Advokat verlangte nach dem Rat eines anderen, der die Last des Geheimnisses mit ihm trüge.
An demselben Abend lud er sich seinen alten Bureauvorsteher, einen Herrn Guest, zum Essen ein. Seit über dreißig Jahren war Herr Guest im Dienste des Advokaten. Er besaß dessen unbegrenztes Vertrauen, nicht nur in geschäftlichen, sondern auch in persönlichen Angelegenheiten.
Nach dem Essen saßen die beiden vor dem Feuer; zwischen ihnen stand auf einem kleinen Tisch eine Flasche Portwein, – ein alter Jahrgang von besonderer Güte, der lange in Uttersons Keller geruht hatte. Der Nebel lag noch immer schwer und dunkel auf der Stadt; die Gasflammen brannten mit trübem rötlichem Lichte; durch die dicke Luft erklang das Treiben und Schaffen der großen Stadt, wie das Echo eines mächtigen Windes. Aber in der Stube war es warm und hell und behaglich. Der kräftige, südliche Wein hatte den Advokaten nach den Ereignissen des Tages in eine ruhigere Stimmung versetzt; er fühlte das Bedürfnis zu reden. Der alte Bureaubeamte war auch häufig in Jekylls Hause gewesen, er war mit Poole gut bekannt, er hatte ohne Zweifel von Hyde gehört, von der merkwürdigen Stellung, die dieser im Hause des Doktors einnahm. Warum sollte Guest nicht den Brief sehen? Er galt als Autorität in der Beurteilung von Handschriften; außerdem würde er ganz gewiß, nachdem er den Brief gelesen, irgend eine Bemerkung über den Inhalt desselben machen; und Utterson hielt viel auf den klaren Kopf und das gesunde Urteil seines Beamten.
»Das ist eine traurige Geschichte,« fing der Advokat an, »dieser Mord von Sir Danvers Carew.«
»Sehr, sehr traurig,« sagte der alte Schreiber. »Die Geschichte hat überall einen sehr tiefen, peinlichen Eindruck gemacht. Es ist ohne Zweifel die Tat eines Wahnsinnigen.«
»Darüber möchte ich gern Ihr Urteil haben, Guest,« fuhr der Advokat fort. »Ich habe hier einen von dem Verbrecher geschriebenen Brief. Ich weiß kaum, was ich damit anfangen soll; es ist eine heikle Geschichte. Hier ist der Brief – ganz Ihre Liebhaberei – das Autograph eines Mörders.«
Guest nahm den Brief, rückte seinen Stuhl näher an das Licht und prüfte das Schriftstück mit größter Aufmerksamkeit. »Nein,« sagte er nach einiger Zeit, »der Mann ist nicht wahnsinnig, aber es ist eine seltsame Handschrift.«
»Und ein seltsamer Mann, der den Brief geschrieben,« fügte der Advokat hinzu. Gerade in diesem Augenblick brachte Uttersons Diener einen Brief für seinen Herrn.
»Ist der Brief von Doktor Jekyll?« fragte der Schreiber; »ich glaube, seine Handschrift zu erkennen. Handelt es sich um eine Privatangelegenheit, Herr Utterson?«
»Durchaus nicht, eine Einladung zum Essen,« erwiderte der Advokat, »wollen Sie den Brief sehen?«
»Ich bitte darum; nur auf einen Augenblick.« Der Schreiber legte die beiden Briefe nebeneinander auf den Tisch und verglich die Handschriften, Buchstaben für Buchstaben. »Ich danke Ihnen,« sagte er nach einiger Zeit, indem er beide Briefe zurückgab, das ist ein außerordentlich interessantes Autograph.«
Es entstand eine lange Pause – Utterson schien mit sich selbst zu kämpfen. »Warum verglichen Sie die beiden Briefe, Guest,« fragte er endlich.
»Ich will es Ihnen sagen, Herr Utterson,« sagte der Schreiber mit einiger Verlegenheit, »es ist eine ganz eigentümliche Aehnlichkeit zwischen den beiden Handschriften. – In vielen Buchstaben sind sie fast identisch; nur ist die eine schräger als die andere.«
»Das ist ja sehr seltsam,« sagte der Advokat.
»Sehr seltsam,« wiederholte Guest.
»Wissen Sie, Guest, wir wollen niemand etwas von diesem Briefe sagen.«
»Selbstverständlich nicht,« sagte der Schreiber.
Sobald Utterson allein war, öffnete er seinen eisernen Schrank und legte den Brief in das große Kuvert, das Doktor Jekylls Testament enthielt. Nachdem er den Schrank geschlossen, fiel er wie zerknirscht in einen Lehnstuhl und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen.
»Ist es möglich?« fragte er sich, »ist es möglich? Ist Henry Jekyll zum Fälscher geworden, um eines Mörders willen?«
*
<< Kapitel 4 Kapitel 6 >>
VI.
Mehrere Wochen vergingen. Tausende von Pfund wurden als Belohnung für die Entdeckung des Verbrechers geboten; der Mord des alten, hochgeachteten Baronet wurde als ein die ganze Hauptstadt betreffendes Unglück betrachtet – aber Hyde war wie von der Erde verschwunden. Man brachte manches über seine Vergangenheit ans Tageslicht: – Taten von unglaublicher Niedertracht und Grausamkeit, Ausschweifungen der gemeinsten Art, Verbindungen mit Menschen aus den verrufensten Klassen der Gesellschaft. Ueberall begegnete man auch demselben Haß, demselben unerklärlichen Abscheu, der jeden erfüllte, der mit ihm in Verbindung gekommen war – aber über sein Verbleiben konnte niemand den geringsten Aufschluß geben. Seit dem Morgen, an welchem er seine Wohnung in Soho verlassen, war es, als ob er nie gelebt hätte. Auch Herr Utterson hatte sich einigermaßen von der Aufregung erholt. Er dachte bei sich, daß das Verschwinden Hydes selbst mit dem Tode seines alten Freundes und Klienten, Sir Danvers, nicht zu teuer bezahlt sei.
Jetzt, da sein unheimlicher Einfluß aufgehört, begann für Doktor Jekyll ein neues Leben. Er trat aus der Verschlossenheit heraus, die ihn während der letzten Jahre umfangen, er knüpfte seine Beziehungen zu alten Freunden wieder an, man sah ihn wieder in Gesellschaft, in seinem Hause herrschte wie früher eine großartige Gastfreundschaft, es stand jedem seiner Bekannten offen. Er besuchte seine alten Patienten, die er lange vernachlässigt, man sah ihn häufig zu Pferde oder im Wagen im Park, er ging regelmäßig in die Kirche, man konnte sehen, wie er sich bemühte, nur Gutes zu tun. Sein schönes Gesicht nahm wieder den Ausdruck der Ruhe und des Wohlwollens an. Während zwei Monaten konnte man bemerken, daß Henry Jekyll mit sich selbst und der Welt in Frieden lebte.
Am 8. Januar gab Jekyll ein großes Essen, selbstverständlich war Utterson zugegen, und auch, zum ersten Male seit mehreren Jahren, Doktor Lanyon. Lange, nachdem die anderen Gäste fort waren, saßen die drei noch zusammen, tranken und schwatzten, wie in den alten schönen Tagen ihrer unzertrennlichen Freundschaft.
Am 12. abends wollte Utterson seinem Freunde Jekyll einen Besuch machen, er wurde nicht vorgelassen; ebensowenig am 14. »Der Herr Doktor ist nicht wohl,« sagte Poole, »er wünscht niemand zu sehen.«
Am 15. versuchte es der Advokat noch einmal und erhielt denselben Bescheid: »Der Herr Doktor wünscht niemand zu sehen.«
Utterson hatte Jekyll während der letzten zwei Monate fast täglich gesehen; es berührte ihn sehr peinlich, daß er jetzt dreimal hintereinander abgewiesen worden war. Am folgenden Abend ging er zu Lanyon.
Er wurde sofort eingelassen. Eine entsetzliche Ueberraschung stand ihm bevor. Noch nie in seinem Leben hatte er eine so schnelle Veränderung in dem Aussehen eines Menschen beobachtet. Der Tod stand Lanyon auf der Stirn geschrieben. Der blühende Mann war blaß und mager geworden, seine Haut hing schlaff und welk über sein Gesicht; er war um zwanzig Jahre gealtert. Doch waren es nicht diese Anzeichen körperlichen Hinsiechens, die Utterson stutzig machten: es war ein Ausdruck unbeschreiblicher Seelenangst, unüberwindbaren Schreckens in Lanyons Auge, was ihm am meisten auffiel.
»Er ist Arzt,« sagte er sich, »er weiß, daß er dem Tode geweiht ist.«
Doch mußte er sich eingestehen, daß unter allen seinen Bekannten niemand weniger Ursache hatte, den Tod zu fürchten, als Lanyon. Als er dem Doktor sein inniges Bedauern über sein schlechtes Aussehen ausdrückte, fand er ihn auch vollständig auf sein nahe bevorstehendes Ende gefaßt.
»Ich habe einen Schreck gehabt, Utterson,« sagte er, »von dem ich mich nie wieder erholen werde. Es ist jetzt nur noch eine Frage der Zeit, einiger Wochen – vielleicht einiger Tage. Ich habe ein schönes Leben gehabt, viele Freude und viele Freunde. Ich habe mein Leben genossen – ja, alter Utterson, ich habe es genossen und mich desselben gefreut. Und doch,« fügte er mit großer Traurigkeit hinzu, »denke ich mir, wenn wir alles wüßten, würde uns der Abschied nicht so schwer werden.«
»Jekyll ist auch wieder krank,« sagte Utterson. »Hast du ihn gesehen?«
Ein Ausdruck unbeschreiblichen Schreckens zeigte sich auf Lanyons Gesicht. Er sprang an allen Gliedern zitternd auf. Mit ausgestreckter Hand, als wollte er ein Gespenst abwehren, mit bebender Stimme rief er: »Sprich diesen Namen nicht wieder in meiner Gegenwart aus; ich will ihn nie wieder hören, ich will den Menschen nie wieder sehen – er ist tot für mich, tot für alle Zeiten!«
»Unsinn,« sagte Utterson nach einer langen Pause. »Wir sind drei alte Freunde, Lanyon, wir werden keine neuen mehr gewinnen. Was kann ich tun, euch zu versöhnen?«
»Du kannst nichts tun,« sagte der andere, »kein Mensch kann helfen, geh und frag' ihn selbst.«
»Er will mich nicht sehen,« sagte der Advokat.
»Das wundert mich nicht. Wenn ich tot bin, wird die Zeit kommen, Utterson, da du alles erfahren wirst. Bis dahin komm und besuche mich recht oft, aber laß uns von anderen Dingen sprechen. Wenn dir das nicht möglich ist, dann in Gottes Namen bleib' nur fern, denn ich kann es nicht ertragen!«
Sobald Utterson nach Hause kam, schrieb er einen langen Brief an Jekyll, in dem er sich beklagte, daß man ihn nicht vorgelassen habe. Er bat ihn zu gleicher Zeit, ihm Aufschluß über seinen unerwarteten Bruch mit Lanyon zu geben. – Schon am nächsten Tage kam die Antwort. Ein langer konfuser Brief, voll Pathos und Rührung, aber auch voll von vielen unheimlichen, unverständlichen Andeutungen. Der Bruch mit Lanyon sei unheilbar. »Ich gebe unserem alten Freunde keine Schuld,« schrieb Jekyll, »aber wir dürfen uns nie wiedersehen. Ich werde von jetzt an sehr abgeschlossen leben. Du darfst dich nicht wundern, noch mir zürnen, wenn meine Tür selbst dir verschlossen bleibt. Du mußt mich meine eigenen dunklen Wege gehen lassen. Es hängt über mir eine Strafe und eine Gefahr, die ich mir selbst geschaffen, die ich dir aber nicht nennen darf. Ich habe schwer gesündigt und ich bin schwer gestraft. Ich glaubte nicht, daß es möglich sei, auf dieser Erde solche Leiden, solche Qualen zu ertragen. – Du kannst nur eins tun, mein trauriges Los zu erleichtern, indem du mein Schweigen achtest.«
Utterson war wie betäubt, als er diesen Brief gelesen. Jekyll war, wie er fest geglaubt hatte, dem unseligen Einfluß Hydes entzogen gewesen. Er hatte ein neues Leben begonnen, die Welt lag lächelnd und heiter vor ihm, er durfte mit Zuversicht einem ehrenvollen Alter entgegensehen. Und nun war alles mit einem Male anders geworden, Jekylls Seelenfrieden und Glück schienen jetzt unrettbar verloren. »Er ist wahnsinnig,« sagte sich Utterson. Wenn er aber an Lanyons Worte dachte, an die traurige Veränderung, die in dem starken, blühenden Mann vorgegangen war, so mußte er fürchten, daß noch andere ungeahnte Umstände mit diesem seltsamen Fall verbunden waren.
Vierzehn Tage darauf starb Doktor Lanyon. Am Abend nach dem Begräbnis, dem Utterson mit schmerzlichster Empfindung beigewohnt hatte, saß der Advokat allein in seinem großen Arbeitszimmer, das spärlich von einem Lichte erleuchtet war. Vor ihm lag ein großer schwerer Brief, auf dessen Kuvert mit Lanyons Hand geschrieben stand: »Für John G. Utterson allein. Sollte er vor mir sterben, ungeöffnet zu verbrennen.« Der Advokat fürchtete sich fast, das Siegel zu brechen.
»Ich habe heute einen guten Freund begraben,« dachte er sich, »soll ich jetzt vielleicht noch einen andern verlieren?«
Endlich entschloß er sich. Das große Kuvert enthielt nur einen ebenfalls sorgfältig versiegelten Brief, auf dessen Umschlag geschrieben stand: »Nicht vor Doktor Henry Jekylls Tode, oder seinem Verschwinden zu eröffnen.«
Utterson konnte kaum seinen Augen trauen. Hier stand es wieder geschrieben, das unheimliche, drohende Wort: »Verschwinden«, gerade wie in dem unerklärlichen Testament, das er übrigens Jekyll längst zurückgegeben; hier war wieder die Möglichkeit des Verschwindens mit dem Namen Henry Jekyll verbunden! In dem Testament ließ sich diese finstere Voraussetzung durch die fluchwürdige Verbindung mit Hyde einigermaßen erklären. Aber hier stand das Wort wieder, mit Lanyons eigener Hand geschrieben. Was mochte es nur bedeuten? Der Advokat wollte schon die Verfügung Lanyons unberücksichtigt lassen und das Siegel brechen, nicht aus Neugierde, sondern in der Hoffnung, daß er etwas in dem Briefe finden werde, das ihm ermögliche, dem unglücklichen Jekyll zu helfen. – Doch sein strenges Ehrgefühl den Bestimmungen eines toten Klienten gegenüber, das Andenken an seinen alten Freund, den er heute morgen begraben, hinderten ihn daran. Mit schwerem Herzen legte er den Brief in einen geheimen Verschluß des eisernen Schrankes.
Seit jenem Abend hatte sich Uttersons ein eigentümliches Gefühl bemächtigt. Er empfand eine unerklärliche Abneigung, eine gewisse Furcht, Jekyll allein zu sehen. Er dachte fortwährend und mit aller Freundschaft an ihn, aber zu gleicher Zeit mit Sorge und Beängstigung. Er ging häufig nach dem Hause, um sich zu erkundigen, und es war stets eine gewisse Erleichterung, wenn Poole den gewöhnlichen Bescheid gab: »Der Herr Doktor ist nicht zu sprechen.« Es war ihm angenehmer, sich mit dem alten Diener vor der Tür einige Minuten zu unterhalten, auf dem offenen, belebten Square, wo das Leben und Treiben der großen Stadt an sein Ohr schlug, als in das öde, dunkle Haus zu treten, wo der unglückliche Bewohner in freiwilliger Gefangenschaft lebte.
Was Poole zu sagen hatte, war auch nicht geeignet, den Advokaten zu beruhigen. Der Doktor ließ sich fast gar nicht mehr sehen. Er war vom Morgen bis zum Abend in seinem Laboratorium, wo er auch mitunter die Nacht zubrachte.
»Er scheint sehr traurig zu sein,« sagte Poole, »er spricht fast nie, er meidet uns; er liest nicht. Er muß etwas sehr Schweres auf dem Herzen haben.«
Utterson hatte sich so an diese trostlosen Nachrichten gewöhnt, daß mit der Zeit seine Besuche seltener und seltener wurden.
*
<< Kapitel 5 Kapitel 7 >> VII.
Eines Nachmittags kamen Utterson und Enfield auf ihrem gewöhnlichen Sonntagsspaziergang wieder durch die kleine Nebenstraße. Als sie an die Hintertür kamen, standen beide still. »Hoffentlich nicht,« sagte Utterson. »Habe ich dir je gesagt, daß ich ihn einmal gesehen habe, und daß er mir denselben Abscheu und Widerwillen einflößte, wie dir?«
»Das kann ich mir wohl denken,« erwiderte Enfield. »Uebrigens mußt du mich für sehr dumm gehalten haben, daß ich nicht wußte, daß diese Tür in Doktor Jekylls Hinterhaus führte. Ich habe es teilweise dir zu verdanken, daß ich es entdeckt habe.«
»So? Das wußte ich nicht,« sagte Utterson. »Da wir gerade hier sind, wollen wir doch einmal in die Sackgasse gehen und uns die Fenster ansehen. Ich muß dir gestehen, ich fühle mich sehr beunruhigt wegen des armen Jekyll, und obgleich ich hier draußen bin, ist es mir, als ob die Nähe eines Freundes ihm gut tun könnte.«
Die kleine Gasse war naß und kalt; obgleich der Himmel noch hell vom warmen Sonnenlicht war, herrschte schon ein unheimliches Halbdunkel in derselben. – Das mittlere der drei Fenster war halb offen, und an demselben, mit einem Ausdruck hoffnungsloser Traurigkeit, wie ein zum Tode Verurteilter, saß Doktor Jekyll.
»Heda, Jekyll!« rief Utterson, »wie geht's? Hoffentlich besser!«
»Ich fühle mich sehr schwach, Utterson,« sagte Jekyll mit gebrochener Stimme, »sehr schwach. Gott sei Dank, es kann nicht lange mehr dauern.«
»Dummes Zeug,« antwortete der Advokat; »du hockst zu viel zu Hause. Du solltest dir mehr Bewegung machen. Komm, schnell, setz' dir den Hut auf, und mach' einen tüchtigen Spaziergang mit uns. Dies ist mein Vetter – Herr Enfield – Doktor Jekyll. Komm, mach' schnell, wir warten.«
»Du bist sehr liebenswürdig, Utterson, sehr liebenswürdig. Ich danke dir von ganzem Herzen, aber es ist unmöglich. Ich würde dich und Herrn Enfield bitten, heraufzukommen, aber die Stube ist wirklich in einem solchen Zustande, daß ich euch nicht empfangen kann.«
»Nun,« sagte der gutmütige Advokat, »dann bleibt uns nichts weiter übrig, als von hier aus ein bißchen mit dir zu schwatzen.«
»Das wollte ich eben vorschlagen,« sagte der Doktor. Aber kaum hatte er diese Worte gesprochen, als das matte Lächeln, das einen Augenblick sein blasses Gesicht erhellte, schwand; ein solcher Ausdruck sklavischer Furcht, unnennbarer Angst, unnatürlichen Schreckens zeigte sich in seinen Zügen, daß den beiden Herren unten das Blut in den Adern erstarrte. Es währte nur einen Augenblick, denn das Fenster wurde sofort geschlossen – aber dieser Augenblick war genug. Sie gingen beide schweigend weiter, erst als sie in eine große, lebhafte Straße gekommen waren, wagten sie es, sich anzusehen. Sie waren beide blaß geworden; verstört und entsetzt blickten sie einander an.
»Gott vergebe ihm, Gott vergebe uns allen!« sagte der Advokat feierlich.
Herr Enfield nickte langsam mit dem Kopfe; dann gingen sie stillschweigend nach Hause.
*
<< Kapitel 6 Kapitel 8 >>
VIII.
Einige Tage darauf saß Utterson nach dem Essen allein beim Feuer, als er durch Pooles Besuch überrascht wurde.
»Was bringt Sie so spät hierher?« fragte er und dann, als er den Mann zum zweiten Male ansah:
»Um Himmels willen, was fehlt Ihnen, Poole? Sind Sie krank? Ist der Doktor krank?«
»Herr Utterson,« sagte der alte Diener, »es ist etwas nicht richtig bei uns!«
»Setzen Sie sich, Poole,« sagte der Advokat, hier, trinken Sie ein Glas Wein; Sie sind ja ganz verstört. Was gibt's denn?«
»Sie kennen ja des Herrn Doktors eigentümliche Lebensweise,« erwiderte Poole, »Sie wissen, daß er sich tagelang in seiner Arbeitsstube einschließt und sich vor niemand sehen läßt. Jetzt ist er wieder eingeschlossen, und, beim allmächtigen Gott, Herr Utterson, es ist etwas nicht geheuer, mir ist bange!«
»Und weshalb ist Ihnen bange? Sprechen Sie sich doch aus!«
»Seit über einer Woche habe ich dieses unheimliche Gefühl. Es ist etwas nicht geheuer bei uns im Hause; ich kann es nicht länger ertragen.«
Utterson sah Poole mit Erstaunen und Bedauern an. Der Mann war sichtlich verändert; er war blaß, und in seinen Augen drückte sich ein Gefühl der Angst und des Schreckens aus. Nicht einmal hatte er dem Advokaten ins Gesicht gesehen. Er hielt das Glas Wein unberührt in seiner Hand und starrte finster vor sich hin.
»Es ist nicht geheuer bei uns,« sagte er dumpf.
»Sie scheinen alle Ursache zu haben, erregt zu sein,« sagte Utterson, »sagen Sie mir doch, was es ist.«
»Herr,« sagte Poole mit bebender Stimme, »es handelt sich um ein Verbrechen – eine Gewalttat!« –
»Ein Verbrechen?« rief der Advokat, der jetzt auch ernstlich erschreckt war. »Ein Verbrechen? Aber um Gottes willen, so sprechen Sie doch!«
»Ich wage es nicht,« erwiderte Poole, »kommen Sie, und überzeugen Sie sich selbst.«
Utterson stand auf, nahm seinen Hut, und die beiden machten sich auf den Weg.
Es war ein stürmischer, kalter Märzabend. Leichte, durchsichtige Wolken jagten über das blasse Mondviertel dahin. Der heftige, eisige Wind wirbelte hohe Staubwolken auf; es war kaum möglich, zu sprechen. Er schien auch die Leute von den Straßen gefegt zu haben; Utterson sagte sich, daß er diesen Teil Londons noch nie so einsam gesehen habe. Und nie hatte er mehr das Bedürfnis gefühlt, als gerade jetzt, Menschen zu sehen, zu fühlen, mit ihnen zu reden. Er konnte sich der erdrückenden Ahnung eines großen Unglücks nicht erwehren.
Der Square, in welchem Jekylls Haus stand, war voll Wind und Staub. Die entblätterten Aeste der Bäume schlugen mit unheimlichem Geräusch aneinander.
Poole, der während des ganzen Weges ungefähr zwei Schritt vor dem Advokaten gegangen, stand mit einem Male still. Trotz des eisigen Windes nahm er seinen Hut ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war aber nicht der gesunde Schweiß, der durch die schnelle Bewegung hervorgebracht wird, es waren die kalten, schweren Tropfen, die die Furcht erpreßt, denn sein Gesicht war totenbleich, seine Stimme heiser und zitternd, als er sich zu Utterson wandte:
»Jetzt sind wir an Ort und Stelle, Herr; Gott gebe, daß alles gut wird!«
»Amen!« sagte der Advokat feierlich.
Der Diener klopfte vorsichtig an die Tür, dieselbe wurde nur ganz wenig geöffnet, und eine Stimme fragte von innen:
»Sind Sie es, Poole?«
»Ja, öffnen Sie die Tür.«
Die große Halle war hell erleuchtet, ein mächtiges Feuer brannte im Kamin, und um dasselbe, dicht aneinandergedrängt, wie eine Schafherde, stand die gesamte Dienerschaft des Hauses.
»Gott sei Dank, es ist Herr Utterson,« rief die alte Köchin und stürzte dem Advokaten entgegen, als wollte sie ihn umarmen. –
»Was tut Ihr alle hier?« sagte Utterson etwas verdrießlich. »Das scheint mir durchaus nicht in der Ordnung. Das würde dem Herrn Doktor sehr unlieb sein.«
»Sie fürchten sich alle,« sagte Poole.
Allgemeines Schweigen folgte, das nur durch das krampfhafte Weinen des Stubenmädchens unterbrochen wurde.
»Seien Sie ruhig,« fuhr Poole sie an, mit einer Heftigkeit, die dem gutmütigen alten Mann sonst ganz fremd, und die nur ein Zeugnis seiner eigenen inneren Erregung war. Auf allen Gesichtern war derselbe Ausdruck unnennbarer Furcht zu lesen, den der Advokat bei Poole bemerkt hatte. Dieser nahm jetzt ein Licht und bat Herrn Utterson, ihm zu folgen.
»Gehen Sie recht leise,« sagte er, »Sie sollen hören, aber Sie sollen nicht gehört werden. Und noch eins; sollte er Sie bitten, hereinzukommen, tun Sie es nicht, ich beschwöre Sie!«
Auf dies Gesuch war Utterson nicht gefaßt, es machte ihn ganz verwirrt, doch sammelte er sich und folgte Poole über den Hof in das Sezierzimmer, das noch immer in demselben Zustande der Unordnung war, wie bei seinem letzten Besuche. Poole nahm seine ganze Willenskraft, seinen ganzen Mut zusammen, stieg die mächtigen Stufen hinauf und klopfte an die Tür des Arbeitszimmers.
»Herr Utterson ist hier und wünscht den Herrn Doktor zu sehen,« rief er laut. Zu gleicher Zeit machte er Utterson ein Zeichen, aufmerksam zu horchen.
»Sagen Sie ihm, es sei unmöglich,« erwiderte eine klagende, schwache Stimme von innen, »ich bedaure sehr, ich kann niemand sehen.«
»Sehr wohl, Herr Doktor,« sagte Poole mit lauter Stimme, mit einem gewissen Ausdruck des Triumphs. Dann nahm er das Licht und führte den Advokaten zurück in das Vorderhaus.
»Herr Utterson, ich frage Sie, war das meines Herrn Stimme?«
»Sie klingt sehr verändert,« sagte der Advokat, der totenbleich geworden war.
»Verändert?« rief Poole: »Ich bin zwanzig Jahre in diesem Hause, und sollte meines Herrn Stimme nicht kennen? – Nein, mein Herr ist ermordet – verschwunden, seit einer Woche, seit damals, als ich ihn habe schreien und Gott anrufen hören. Aber wer jetzt in seinem Zimmer ist, das weiß niemand, und daß er auch ruhig da drinnen bleibt, das schreit gen Himmel, Herr Utterson!«
»Es ist eine seltsame Geschichte, Poole, eine sehr seltsame Geschichte,« sagte Utterson. »Aber wirklich angenommen, daß Doktor Jekyll ... ermordet ist, so ist es doch nicht wahrscheinlich, daß der Mörder noch dort im Zimmer bleibt. Nein, nein, Poole, die Annahme hält nicht Stich.«
»Herr Utterson,« sagte Poole, »Sie sind schwer zu überzeugen, und doch wird es mir gelingen. Während der ganzen letzten Woche hat er, oder es, in jenem Zimmer nach einem besonderen Medikament verlangt und hat es nicht bekommen können. Der Doktor pflegte mitunter seine Befehle auf kleine Zettel zu schreiben, die ich auf der Treppe fand. So ist es auch diese ganze Woche gegangen; nichts als Zettel und eine verschlossene Tür, sogar die Mahlzeiten, die ich vor die Tür stellte, hat er heimlich hineingeschmuggelt, wenn niemand zugegen war. Jeden Tag, mitunter zwei und dreimal, sind solche Befehle und Klagen gekommen, ich bin bei allen Apothekern und Chemikalienhändlern der Stadt herumgelaufen. Und jedesmal, wenn ich das Verlangte brachte, erhielt ich wieder einen neuen Zettel: ich sollte das Paket zurücknehmen, die Ware sei verfälscht, untauglich; und dann folgte eine neue Bestellung an eine andere Firma. Was es auch sein mag, Leben und Tod scheinen von der Echtheit dieses Präparats abzuhängen.«
»Haben Sie vielleicht noch einen von jenen Zetteln?« fragte Herr Utterson.
Poole suchte in seinen Taschen und zog ein zerknittertes Stück Papier hervor, welches der Advokat mit großer Aufmerksamkeit durchlas: Doktor Jekyll schrieb an den Besitzer einer großen Chemikalienhandlung, daß das eben gesandte Medikament verfälscht und ganz unbrauchbar sei. Er habe im Jahre 18.. eine größere Quantität desselben von ihm gekauft, und er ersuche ihn so dringend wie möglich, auf das allergenauste nachsehen zu lassen, ob nicht noch etwas davon vorhanden sei; gleichviel was es koste, es müsse beschafft werden, es wäre von unbeschreiblicher Wichtigkeit für Doktor Jekyll. Bis dahin war der Brief in ruhigem Geschäftston geschrieben; dann aber schien es, als ob der Schreiber nicht länger seiner Bewegung Herr geblieben; mit einem entstellten Gekritzel geschrieben folgten die Worte: »Im Namen Gottes, verschaffen Sie mir noch etwas von der alten Sorte!«
»Das ist ein merkwürdiger Brief,« sagte Utterson. »Wie kommt es, daß er offen in Ihren Händen ist?«
»Der Kommis im Laden wurde furchtbar ärgerlich und warf ihn mir beinahe ins Gesicht,« sagte Poole.
»Das ist ohne Zweifel Doktor Jekylls Handschrift,« sagte der Advokat.
»Mir scheint es auch so,« sagte Poole etwas gereizt, »aber warum soll ich mich um diese Schreiberei kümmern? Ich habe ihn gesehen.«
»Sie haben ihn gesehen? Nun?«
»Ich will Ihnen sagen, wie es kam. Ich trat plötzlich in das Laboratorium ein. Er war heimlich heruntergekommen und stöberte unter den Chemikalien herum; die Türe seiner Arbeitsstube stand offen. So wie er mich sah, stieß er einen Schrei aus und flog die Treppe hinauf wie ein gehetztes Tier. Ich sah ihn nur einen Augenblick, aber das genügte. Das Haar stand mir zu Berge; es überläuft mich kalt, wenn ich nur daran denke. Wenn das mein Herr war, warum hatte er eine Maske vor? Wenn das mein Herr war, warum schrie er wie eine Ratte und lief vor mir fort? Ich habe ihm, Gott weiß es, lange und treu gedient ... O Gott, o Gott!« ... Der alte Diener, von seiner Bewegung übermannt, hielt inne und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen.
»Das klingt alles sehr sonderbar, Poole,« sagte der Advokat, »aber ich glaube, ich sehe ein Licht in der Dunkelheit. Ich vermute, Ihr Herr ist von einer jener entsetzlichen Krankheiten befallen, die nicht nur den Körper peinigen, sondern ihn auch entstellen. – Daher kommt auch die Veränderung in seiner Stimme, daher die Maske, daher sein Vermeiden alter Freunde; daher seine Besorgnis, das richtige Medikament zu bekommen, von dem er Linderung und Genesung erwartete. – Der Himmel gebe, daß er sich nicht täuscht. Das ist meine Erklärung des Geheimnisses. Es ist immerhin noch schlimm genug, aber wir haben doch nicht das Aergste zu befürchten.«
»Herr Rechtsanwalt,« sagte Poole mit bleichem Gesicht und bebender Stimme, »das Ding da, das Geschöpf, das ich gesehen, das war nicht mein Herr!« Er blickte sich ängstlich um, als wollte er sich vergewissern, daß ihn niemand höre: »Mein Herr war ein großer, schön gewachsener Mann – dies war ein Zwerg!«
Utterson versuchte, ihm zu widersprechen. »Was,« fuhr der Diener im höchsten Grade erregt fort, »glauben Sie, daß ich meinen Herrn nicht kenne, nach mehr als zwanzig Jahren? Glauben Sie, daß ich nicht genau weiß, bis zu welcher Stelle sein Kopf reichte, wenn er in der Tür seines Arbeitszimmers stand, wo ich ihn jeden Morgen gesehen habe? Nein, das Ding da mit der Maske, das war nicht Doktor Jekyll – Gott weiß, wer es war, aber es war nicht Doktor Jekyll, mein guter, lieber Herr – den haben sie ermordet und aus dem Wege geräumt!«
»Poole,« sagte der Advokat, »wenn Sie auf Ihren Behauptungen bestehen, so halte ich es für meine Pflicht, der Sache auf den Grund zu kommen. – Vor allem möchte ich meinen alten Freund nicht verletzen. Nach diesem Briefe zu urteilen ist er noch am Leben; und jetzt bin ich entschlossen, die Tür aufzubrechen.«
»Ah, Herr Utterson, jetzt sprechen Sie, wie ich es von Ihnen erwartete,« rief der Diener.
»Und nun kommt die zweite Frage,« sagte der Advokat, »wer soll die Tür einschlagen?«
»Sie und ich, selbstverständlich!« war die Antwort.
»Gut,« sagte Utterson, »was auch die Folgen sein mögen, ich nehme alle Verantwortung auf mich.«
»Hier liegt eine Axt, ich werde noch ein Brecheisen aus dem Keller holen,« fuhr Poole fort.
Der Advokat nahm das schwere Instrument in seine Hand. »Wissen Sie, Poole,« sagte er, »daß unser Unternehmen nicht ohne Gefahr ist?«
»Gewiß,« erwiderte der Diener.
»Es ist also notwendig,« fuhr Herr Utterson fort, »daß wir uns über alles ganz im klaren find, ehe wir anfangen. Wir beide denken und vermuten mehr, als wir uns gesagt haben. Also seien wir offen gegeneinander. Sagen Sie mir aufrichtig, haben Sie diese Gestalt mit der Maske erkannt?«
»Sie war so zusammengekrümmt und so schnell verschwunden, daß ich vor Gericht nicht meinen Eid darauf ablegen möchte. Aber wenn Sie mich fragen, ob es Herr Hyde war, so antworte ich Ihnen, ja, ich bin fest davon überzeugt. Die Gestalt hatte dieselbe Größe, dieselben schnellen, katzenartigen Bewegungen. Außerdem, wer anders hätte in das Hinterhaus kommen können? Niemand hatte den Schlüssel dazu, außer ihm und dem Herrn Doktor. Sie müssen auch nicht vergessen, daß am Tage des Mordes Hyde noch den Schlüssel hatte. Doch das ist nicht alles. Ich weiß nicht, Herr Rechtsanwalt, ob Sie diesen Herrn Hyde jemals gesehen haben?«
»Ja, ich habe einmal mit ihm gesprochen.«
»Dann müssen Sie auch den Eindruck gehabt haben, den jeder, der mit ihm zusammengekommen, empfunden hat, daß irgend etwas Unheimliches, Unnatürliches an ihm ist. Ich kann es Ihnen nicht näher beschreiben; ich weiß nur, daß, wenn ich ihn sah, mir das Mark in den Knochen erstarrte.«
»Ich habe auch dieses Gefühl gehabt,« sagte Utterson.
»Als dieses maskierte Ding wie ein Affe die Treppe hinaufsprang,« fuhr der Diener fort, »da stand mir das Herz still, ich wurde eiskalt. Ich weiß wohl, Herr Rechtsanwalt, daß meine Aussage vor Gericht nichts gelten würde. Aber ich sage es Ihnen, ich schwöre es Ihnen bei allem, was mir heilig ist – es war Hyde.«
»Ich fürchte, Sie haben recht, Poole,« sagte der Advokat, »es konnte nur Böses von einer solchen Verbindung kommen, nur Böses für meinen alten Freund. Ich fürchte wie Sie, daß der arme Henry Jekyll ermordet ist, und glaube, daß der Mörder – Gott weiß, wie das zu erklären ist – noch oben in der Arbeitsstube haust. Wir müssen Jekylls Tod rächen. Rufen Sie Bradshaw!«
Bradshaw, der zweite Diener erschien, sehr blaß und verstört.
»Mut gefaßt, Bradshaw,« sagte der Advokat, »diese Ungewißheit über das Schicksal Ihres Herrn ist nicht mehr zu ertragen; wir wollen ihr ein Ende machen. Poole und ich werden in die Arbeitsstube eindringen. Um die Möglichkeit zu verhindern, daß uns der Uebeltäter entschlüpfe, gehen Sie mit dem Kutscher an die Hintertür. Nehmen Sie sich jeder einen guten Stock; im Notfalle brauchen Sie Gewalt; unter allen Umständen sorgen Sie dafür, daß er uns nicht entkomme. Ich gebe Ihnen zehn Minuten, sich auf Ihren Posten zu begeben.«
Der Advokat sah nach seiner Uhr.
»Und nun, Poole,« fuhr er fort, »wollen wir auf unseren Posten gehen.«
Sie traten in den Hof. Die Wolken waren schwerer und dichter geworden und bedeckten den Mond; es war tiefe, dunkle Nacht. Der Wind heulte durch den engen Hof und blies das Licht aus, das Poole trug. Erst als er unter der Tür des Laboratoriums stand, war es ihm möglich, es wieder anzuzünden. – Sie setzten sich auf eine Kiste und warteten schweigend. Sie hörten das ferne summende Geräusch der Stadt; aber in ihrer unmittelbaren Nähe wurde die Stille durch Schritte, die sie deutlich über sich vernahmen, unterbrochen.
»So geht es den ganzen Tag,« flüsterte Poole, »und auch den größten Teil der Nacht. O, er hat ein böses Gewissen, der da oben herumschleicht. Er hat Blut vergossen – das ist der Schritt eines Mörders! Horchen Sie, Herr Rechtsanwalt, ist das der Tritt meines Herrn?«
Die Schritte waren leicht, elastisch, ganz verschieden von dem schweren, entschlossenen Auftreten Jekylls. Utterson seufzte tief:
»Ist es immer dasselbe?« fragte er.
»Einmal habe ich es weinen hören,« flüsterte Poole.
»Weinen?« rief der Advokat mit Entsetzen.
»Ja, weinen,« sagte der Diener, »wie ein Weib, wie eine verlorene Seele.«
Die zehn Minuten waren beinahe verstrichen. Poole nahm die Axt, der Advokat die schwere eiserne Stange. Der Vorhang wurde zurückgezogen, das Licht auf eine Kiste am Fuße der Treppe gestellt. Jetzt stiegen beide die Stufen hinauf. Utterson klopfte an die Tür – keine Antwort.
»Jekyll,« rief er mit lauter Stimme, – »ich muß dich sehen – ich bestehe darauf!« – Wiederum keine Antwort. »Ich sage dir, daß ich entschlossen bin, dich zu sehen, und wenn du nicht aufmachst, so schlage ich die Tür ein!«
»Utterson,« rief eine Stimme von innen, »um Gottes willen, hab' Erbarmen!«
»Ha!« schrie der Advokat, »das ist nicht Jekylls Stimme, das ist Hyde! Schlagen Sie die Tür ein, Poole!«
Poole vollführte mit der Axt einen wuchtigen Hieb. Es war eine alte, feste Tür aus hartem Holz, die nicht weichen wollte.
Ein grauenerregendes, tierähnliches Angstgeschrei drang aus der Stube. Endlich gelang es Utterson, sein Eisen einzuklemmen und das Schloß aufzubrechen. –
Einen Augenblick standen die beiden still, als ob sie erschreckt wären von dem Lärm, den sie selbst machten. Da lag die Stube vor ihnen, im hellen ruhigen Lampenlicht; ein großes Feuer brannte im Kamin; ein kleiner kupferner Kessel summte auf dem Herde; auf einem Nebentisch waren Vorbereitungen zum Tee gemacht; auf dem großen Arbeitstische lagen Briefe und andere Papiere in sorgfältigster Ordnung – es konnte in ganz London kein ruhigeres, gemütlicheres Zimmer geben.
Aber auf dem Fußboden krümmte sich in schrecklichen, krampfhaften Zuckungen ein menschlicher Körper. Sie traten näher. Utterson legte ihn auf den Rücken und erblickte das Gesicht – von Edward Hyde. Er trug Kleider, die viel zu groß für ihn waren, Kleider, die Jekyll gepaßt hätten. Seine Gesichtsmuskeln zuckten noch krampfhaft – aber das Leben war entflohen. – Ein zerbrochenes Fläschchen in der starren Hand, ein starker Geruch von bitteren Mandeln überzeugte Utterson, daß er vor der Leiche eines Selbstmörders stand. –
»Wir sind zu spät gekommen, Poole,« sagte er feierlich, »zu spät zu retten oder zu strafen. Hyde steht jetzt vor einem anderen Richter. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Leiche unseres unglücklichen Freundes zu suchen.«
Sie durchstöberten das Hintergebäude mit größter Sorgfalt. Kein Wandschrank, kein Alkoven, kein Winkel entging ihrer Aufmerksamkeit. Der Staub, der von den Türen fiel, zeigte deutlich, daß dieselben seit langer Zeit nicht geöffnet waren. – Unten im Keller lagen zerbrochene Kisten und allerlei Unrat; die Spinnen hatten ihre Netze vor die Tür gewebt; es war augenscheinlich, daß seit Jahren kein Mensch diesen Raum betreten. – Nirgends war eine Spur von Herrn Jekyll zu finden.
»Vielleicht hat er ihn hier verscharrt,« sagte Poole, indem er mit dem Fuße aus die großen Steine des Ganges, der nach der Straßentür führte, stampfte. –
»Oder er hat sich vielleicht gerettet und ist entflohen,« sagte Utterson. Sie gingen an die Tür. Sie war verschlossen, und dicht dabei auf den Steinen lag der Schlüssel. Er war ganz mit Rost bedeckt. »Der ist seit längerer Zeit nicht gebraucht worden,« sagte Utterson.
»Gewiß nicht,« meinte Poole, »sehen Sie denn nicht, Herr Rechtsanwalt, daß er zerbrochen ist? Gerade als wenn ihn jemand mit Gewalt zertreten hätte.«
»Ja, und die Bruchstücke sind auch schon verrostet,« fuhr Utterson fort. Die beiden starken Männer sahen sich mit Furcht und Bangen an.
»Ich weiß nicht, was ich tun oder denken soll,« sagte der Advokat endlich. »Kommen Sie, Poole, wir wollen noch einmal die Stube durchsuchen.«
Sie stiegen die Treppe wieder hinauf. Da lag die Leiche Hydes, starr und kalt – ein grauenhafter Anblick.
Sie untersuchten die Stube noch einmal mit größter Sorgfalt; vielleicht würden Sie einen Brief oder sonst etwas finden, was ihnen Aufschluß über Jekylls Verbleiben geben könnte. Auf einem der Seitentische mußten noch vor kurzem chemische Experimente gemacht worden sein. Kleine Glasschüsseln mit Chemikalien, Fläschchen mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten, eine Apothekerwage, Filter und ähnliche Gegenstände zeugten von der Arbeit eines Gelehrten.
»Dies ist das Präparat, das ich ihm so oft holen mußte,« sagte Poole, auf ein weißes, salzartiges Pulver deutend.
Vor dem Feuer stand ein Lehnstuhl; neben demselben ein kleiner Tisch, auf dem der Tee serviert war. Ein offenes Buch lag dabei. Utterson nahm es auf; es war ein theologisches Werk, von dem ihm Jekyll oftmals mit großer Verehrung gesprochen hatte. Die Seiten waren von des Doktors eigener Hand mit gräßlichen Gotteslästerungen bekritzelt.
Mit einem unerklärlichen Gefühl von Schauder blickten sie in den großen Drehspiegel, der so gestellt war, daß sie außer ihren eigenen blassen, furchtsamen Gesichtern nur das rosige Licht des Feuers sehen konnten, das lustig im Kamin brannte und in phantastischen Gebilden von den Scheiben der Schränke widerspiegelte.
»Der Spiegel muß seltsame Dinge gesehen haben,« flüsterte Poole.
»Nichts Seltsameres, als heute,« erwiderte der Advokat. »Ich zerbreche mir den Kopf darüber, wozu Jekyll denselben hier gebraucht hat.«
»Ich habe mich auch oft darüber gewundert,« sagte der Diener.
Der Schreibtisch war mit sorgfältig geordneten Papieren bedeckt. Obenauf lag ein großer, schwerer Brief, vorsichtig versiegelt und an Herrn Utterson adressiert. Der Advokat öffnete ihn; mehrere Einlagen fielen aus dem Kuvert. Die erste war ein Testament. Es enthielt dieselben merkwürdigen Verfügungen wie das, welches er Jekyll vor sechs Monaten zurückgegeben. – Da standen auch wieder die unheimlichen Worte: »im Falle meines Verschwindens« – aber anstatt des Namens Edward Hyde sah der Advokat jetzt seinen eigenen Namen – John Gabriel Utterson. – Er sah Pools an, dann das Schriftstück in seiner Hand – dann die regungslose Leiche.
»Poole,« sagte er endlich, »mir schwindelt der Kopf. Ich weiß nicht, was ich zu alledem sagen soll. Hyde ist seit mehreren Tagen hier allein in der Stube gewesen. Er hatte keine Ursache, mir wohlzuwollen; er muß wütend geworden sein, daß mein Name den seinen aus dem Testament verdrängt hat, und doch hat er es nicht vernichtet.«
Er nahm eine andere Einlage; ein kurzer Brief, oben datiert, von Jekylls eigener Hand.
»Poole,« rief der Advokat in größter Erregung, »er war heute noch am Leben und hier in dieser Stube. Man kann ihn nicht in so kurzer Zeit aus dem Wege geschafft haben; er lebt noch, er muß geflohen sein! Aber weshalb? Und wie?« Ein unheimlicher Gedanke bemächtigte sich des Advokaten. »Ich glaube nicht,« fuhr er fort, »daß wir berechtigt sind, diesen Toten ohne weiteres für einen Selbstmörder zu halten. Wir müssen sehr vorsichtig sein, Poole, wer weiß, ob nicht noch ein schreckliches Unglück für Ihren Herrn aus dieser Geschichte erwächst.«
»Aber warum lesen Sie denn nicht den Brief, Herr Rechtsanwalt?« fragte Poole.
»Mir ist bange,« sagte der Advokat; »Gott gebe, daß ich mich täusche!«
Mit diesen Worten nahm er den Brief und las:
»Mein lieber Utterson!
Wenn dieser Brief in Deine Hände gelangt, bin ich verschwunden. Unter welchen Umständen weiß ich noch nicht; aber ein Vorgefühl sagt mir, daß das Ende sicher und nahe ist. Lies zuerst den Brief, den, wie ich weiß, Lanyon Dir geschrieben hat – dann, wenn Dir daran liegt, noch mehr zu erfahren, lies das Bekenntnis Deines unwürdigen und unglücklichen Freundes
Henry Jekyll.
»War nicht noch eine andere Einlage da?« fragte Utterson.
»Hier ist sie,« sagte Poole, indem er dem Advokaten ein schweres, an mehreren Stellen versiegeltes Paket gab.
Der Advokat steckte es in seine Tasche. »Sprechen Sie zu niemand über diese Dokumente. Ob Ihr Herr nun tot sei oder entflohen, unter allen Umständen müssen wir seinen guten Namen retten. Es ist jetzt zehn Uhr. Ich gehe nach Hause und werde diese Briefe sorgfältig durchlesen; vor Mitternacht bin ich wieder hier, und dann wollen wir die Polizei rufen lassen.«
Sie verschlossen das Hinterhaus, und Poole nahm den Schlüssel zu sich. In der Vorhalle stand die Dienerschaft wie zuvor, ängstlich um das Feuer gedrängt. Schweren Schrittes ging Utterson nach Hause. Dort angelangt, verschloß er sich in seine Arbeitsstube und öffnete den eisernen Schrank. Aus der geheimen Lade nahm er Lanyons Brief, den er, nach den ihm gegebenen Vorschriften, zuerst lesen sollte.
*
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IX.
»Vor vier Tagen, am 9. Januar 18..« schrieb Lanyon, »erhielt ich mit der letzten Briefausgabe einen rekommandierten Brief, auf dessen Kuvert ich die Handschrift meines Kollegen und alten Schulfreundes, Henry Jekyll, erkannte. Ich war etwas überrascht; wir korrespondierten nicht viel miteinander; außerdem hatte ich ihn den Abend vorher gesehen und bei ihm gegessen. Ich konnte mir wirklich nicht erklären, was in unseren Beziehungen wichtig genug sei, um die Ehre eines eingeschriebenen Briefes zu verdienen. – Der Inhalt desselben aber steigerte meine Ueberraschung.
›Lieber Lanyon,‹ schrieb Jekyll, ›Du bist einer meiner ältesten Freunde. Obgleich wir während der letzten Jahre nicht immer in wissenschaftlichen Fragen übereinstimmten, so glaube ich doch nicht, daß dies irgend welchen Einfluß auf unsere gegenseitige Zuneigung und Achtung gehabt hat. Hättest Du je zu mir gesagt: ›Jekyll, mein Leben, meine Ehre, mein ganzes Wohl und Wehe hängen von dir ab,‹ so würde ich Dir mein Vermögen, meine rechte Hand, alles, was mir wert ist, mit Freuden geopfert haben. Lanyon, heute flehe ich zu Dir um Hilfe. Mein Leben, meine Ehre, alles, alles liegt in Deiner Hand. Solltest Du in dieser schweren Stunde mir Deinen Beistand versagen, so ist es um mich geschehen. Nach dieser Einleitung fürchtest Du vielleicht, daß ich etwas Unehrenhaftes von Dir verlange – urteile selbst.
Du mußt mir diesen Abend opfern, Du mußt alles andere aufschieben, und riefe man Dich an das Sterbebett eines Kaisers. Nimm Dir eine Droschke, wenn nicht gerade Dein eigener Wagen vor der Tür steht, und fahre direkt nach meiner Wohnung. Poole weiß Bescheid; er wird einen Schlosser im Hause haben, von diesem läßt Du die Tür meiner Arbeitsstube aufbrechen; Du gehst allein hinein; öffnest den Glasschrank E, der erste links von der Tür; daraus nimmst Du, mit allem, was darin ist, die vierte Schublade von oben (die dritte von unten, was dasselbe ist). In meiner entsetzlichen Seelennot habe ich eine krankhafte Furcht, nicht deutlich genug zu sein; doch kannst Du die Lade nicht verfehlen, sie enthält einige Pulver, eine Phiole und ein Buch. Du nimmst sie, ohne irgend etwas darin anzurühren, mit Dir nach Deiner Wohnung in Cavendish Square.
Das ist das erste, was Du für mich tun sollst; nun das zweite. Wenn Du sofort nach Empfang dieses Briefes nach meiner Wohnung fährst, so mußt Du lange vor Mitternacht wieder zu Hause sein. Ich gebe Dir aber viel Zeit, nicht nur aus Furcht, daß durch irgend einen unvorhergesehenen Umstand eine Verzögerung stattfinden könnte, sondern auch, weil um diese Stunde Deine Dienerschaft zu Bett gegangen sein wird, was unter den Verhältnissen sehr wünschenswert ist. Um Mitternacht – genau um zwölf Uhr – bitte ich Dich, in Deiner Sprechstube allein zu sein, und selbst einem Manne die Tür zu öffnen, der dort in meinem Namen Einlaß begehren wird. Diesem gibst Du die Lade, wie Du sie aus dem Schranke genommen hast; dann hast Du das Deinige getan, und Du bist meiner Dankbarkeit auf alle Zeiten sicher. Wenn Du fünf Minuten nachher eine Erklärung haben willst, so wirst Du einsehen, von welcher unberechenbaren Wichtigkeit für mich alle diese Vorkehrungen sind. Solltest Du nur eine einzige derselben unterlassen, so hast Du Dein Gewissen mit meinem Tode, oder, was noch schlimmer ist, mit der Vernichtung meines Verstandes belastet.
Ich bin voller Vertrauen, daß Du mein flehendes Bitten nicht abschlägst, mein Herz stockt, meine Glieder schlottern, wenn ich nur an die Möglichkeit einer Abweisung denke. Ich bin an einem fremden Orte, unter fremden Leuten, in tiefster Seelennot, die selbst die ausschweifendste Phantasie nicht übertreiben kann; o, denke daran, daß, wenn Du nur pünktlich ausrichtest, um was ich Dich bitte, mein ganzes Unglück wie Nebel vor der Sonne verschwinden wird. Denke daran, Lanyon, steh' mir bei und rette
Deinen Freund
Henry Jekyll.‹
›(Nachschrift.) Ich hatte diesen Brief schon versiegelt, als ein Gedanke meine Seele in neuen Schrecken versetzte. Sollte durch irgend einen Zufall dieser Brief erst morgen früh in Deine Hände kommen, dann richte morgen abend meinen Auftrag aus und erwarte den Mann um Mitternacht. Möglicherweise wird es aber dann schon zu spät sein; sollte morgen die Nacht ohne irgend etwas Besonderes vorübergehen, dann weißt Du, daß Du Henry Jekyll nie wieder sehen wirst.‹
Als ich den Brief gelesen hatte, kam ich zu der festen Ueberzeugung, daß mein Kollege wahnsinnig geworden sei. Bis ich jedoch davon positive Beweise erlangt hatte, fühlte ich mich verpflichtet, seinem Gesuch nachzukommen. Je weniger ich den wüsten Unsinn verstand, desto weniger war ich in der Lage, mir von der wirklichen Wichtigkeit dessen, was er geschrieben, einen Begriff zu machen – aber eine Bitte, in solche Worte gekleidet, konnte ich nicht ohne schwere Verantwortlichkeit abweisen. Ich nahm mir sofort eine Droschke und fuhr nach Jekylls Haus. Poole hatte mit derselben Post, wie ich, einen rekommandierten Brief erhalten und hatte einen Schlosser und einen Tischler holen lassen. Nach nicht geringer Mühe gelang es, die schwere, eichene Tür und das feste Schloß zu öffnen. Der Schrank, mit E bezeichnet, stand offen, ich nahm die Schublade, ließ sie sorgfältig in ein Leinentuch einpacken, und fuhr nach Hause.
Dort angekommen, untersuchte ich den Inhalt. Er bestand aus einem weißen Pulver, das in mehrere, ziemlich gleichmäßige Dosen verteilt war. Ohne nähere chemische Untersuchung erschien mir dasselbe als ein harmloses kristallenes Salz. Die Phiole war über die Hälfte mit einer blutroten Flüssigkeit angefüllt, die von scharfem Geruch war und unbedingt Phosphor und irgend ein flüchtiges, ätherisches Präparat enthielt. In dem Buch fand sich eine lange Reihe von Daten, die sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren erstreckten. Das letzte war vor ungefähr einem Jahre eingetragen. Bisweilen war dem Datum eine kurze Bemerkung zugefügt; selten mehr als ein Wort; das Wort »doppelt« kam sechsmal unter den Notizen vor; einmal, ziemlich zu Anfang der Liste, stand in größerer Schrift und mit mehreren Ausrufungszeichen: »vollständig mißlungen!!!« Ich muß gestehen, meine Neugierde war nicht wenig erregt. Ich hatte also ein Fläschchen mit einer roten Flüssigkeit, verschiedene kleine Pakete mit einem weißen Salz und ein Notizbuch mit einer langen Liste von Versuchen, die, wie dies bei Jekyll häufig der Fall gewesen, zu keinem praktischen Resultat geführt hatten. Was konnten diese scheinbar harmlosen Gegenstände mit der Ehre, mit dem Leben meines phantastischen Kollegen zu tun haben? Wenn sein Bote zu mir kommen konnte, warum konnte er nicht ebensogut irgendwo anders hingehen? Und warum kam er um Mitternacht und im geheimen? Je mehr ich über alles nachdachte, desto mehr kam ich zu der Ueberzeugung, daß ich es mit einem Geisteskranken zu tun hätte. Um elf Uhr schickte ich meine Diener zu Bett, lud einen Revolver, um auf alle Fälle vorbereitet zu sein und erwartete meinen Besuch.
Es hatte kaum Mitternacht geschlagen, als ich ein leises Klopfen an der Haustür vernahm. Ich öffnete und sah einen kleinen, breitschulterigen Mann, der sich gegen einen Pfeiler des Eingangs lehnte, als wollte er sich verbergen.